Die dampfende Hand

Quälend zieht sich das Gefühl einer Leere durch meinen Magen wie ein verirrter Wettersatellit im Orbit des Merkurs. Hunger! Seit 2 Tagen habe ich nun nichts Festes mehr zwischen meinen verblendeten Kauflächen gehabt. Ich sehne mich nach einem Wildschweinteller alla Obelix. 
Heute Abend wollen wollen meine Bekannte und ich Essen gehen. Wir haben uns für etwas Chinesisches entschieden. Bis dahin sollte ich mir nicht den Magen füllen, sonst reicht es für heut Abend allenfalls noch für eine Bifi an den Hamburger Landungsbrücken.

 Das wäre für mich jetzt die richtige Portion. 
Und das bereits nach dem Aufwachen 

Es ist 05:00 Uhr in der Früh und ich reibe mir den restlichen Schlafmännchensand aus den Augen. Dieser kleine Kobold mit rotem Filzjäckchen und weißem Flauschebart leistete die Nacht über ganze Arbeit. Der sächsische Gnom hat meine Augen in zwei große Kiesgruben umgebaut. Alle Achtung!
Trotzdem bin ich rattig munter und es gibt nichts, was auf einen schlechten Tag schließen ließe. Selbst der Kauhof Wecker tutet diesmal dezenter und zärtlicher als sonst. Ich schlurfe Richtung Badezimmer und schalte unterwegs den Wasserkocher ein. Eine Teein Bombe soll meine Restmaschinerie in Gang bringen.

Beweisfoto... Mitten bei seiner Arbeit aufgenommen:
Der Sandmann baut meine Augen um!

Eine halbe Stunde später sitze ich abmarschbereit wie eine Wildente auf ihrem ersten Südflug auf der Flurtreppe und versuche in die Turnschuhe zu kommen. Ich habe sie beim Ausziehen mal wieder nicht aufgeschnürt. Sie sind fast neu und wehren sich noch dementsprechend unaufgebunden über die Füße zu gleiten.

Zu jeder Zeit in der Stellung "ZU".
Meine neuen Sport-Treter

Auf dem zehnminütigen Weg zur S-Bahn geben sie ihre Gegenwehr auf und formen sich langsam den Knick- Spreiz- und Senk Füßen an.
Im Weiteren stellt meine Hühnerhaut schmerzhaft fest, dass es kalt ist. Ich habe lediglich ein weißes Hemd unter einer dünnen Sommerjacke an. Ich will schließlich einigermaßen schick beim Chinesen erscheinen und nicht wie ein Inuit bei der Robbenjagd auftreten. Dafür quäle ich mich gerne. Auch, wenn ich mit meinem ameisenbeindünnen Viskosehemd von der Kälte so betroffen bin, dass sich meine Gliedmaßen auf dem kalten Bahnsteig vom restlichen Körper absprengen werden.
In den - durch Lautsprecher angepriesenen - fünf Zugverspätungsminuten klappern meine Zähne aufeinander wie ein rotierendes Glücksrad. 

Endlich, die Bahn kommt. Die Waggontür öffnet sich vor meinen Füßen und der Schließknopf meiner Jeans sprengt sich oberhalb des Reisverschlusses von meiner Hose ab. Das blecherne, bronzene Ding schlägt auf dem Wagenboden auf und lüngelt lautstark einige Meter durch das Zugabteil. Eine Damenriege verstummt und guckt mit Neugier im Gesicht dem klimpernden Blechding entgegen. 

Dünnnkel, dünnkel, dünkel, lüüüngelllüüngellüngelünglünglüng!

Ich gucke an mir herunter und begutachte meine kaputte, erst drei Tage alte und neunzehn Euro teure Takko Hose. „High Quality“ ist auf der im Innenteil befindlichen DIN A4 großen Bügel- und Waschanleitung gedruckt.
Das weiß ich noch genau.
Flink sammle ich den vor mir fliehenden Blechknopf wieder ein und flüchte vor den Blicken der Mitfahrer in die erste Klasse. Im Vorbeigehen erkenne ich, dass alle Mitreisenden noch all ihre Knöpfe an der Hose haben. Ich bin wohl der einzige, der bei Takko der High Quality vertraut hat.
Schnell rauscht die Umgebung an mir vorbei. Eine Zeitung vom Vortag verkürzt mir die zwanzigminütige Reise in die Leinestadt. Die Ruhe wäret nicht lang. Eine ältere Frau zwischen sechzig und neunzig sitzt auf der blau karierten Bank vor mir. Von einem Moment auf den anderen und ohne Anzeichen eines bevorstehenden Hurrikans werden ihre Augen erst glasig, um sich danach zu riesigen Christbaumkugeln nach außen zu weiten.
Ich sollte gewarnt und vorsichtig vor dem sein, was jetzt kommt. Die jetzt riesigen aufgepumpten Froschaugen aber paralysieren mich und ich gucke ihr fasziniert wie ein Gibbon-Äffchen entgegen.

So in etwa...

Haaaaaaaaatttschschschschiiiiiiiiii…

Innerhalb weniger Nanosekunden verschleudert die Elefantendame kleine Sekretfäden ihres Naseninhaltes treffsicher über meine Zeitung hinweg. Das letzte Mal erlebte ich solch gewaltige Gischtwellen beim Besuch der Niagarafälle in Kanada.
Bevor ich meinen Schutzschild in Form meiner Bild Zeitung hochbekomme, wälzt sich bereits die zweite Angriffswelle auf mich zu. Diesmal sind ihre Augen noch größer und ich habe Angst, ihre Pupillen reißen beim nächsten Nieser aus der hinteren Verankerung.

Haaaaaaaaaaaaatttschschschschschschiiiiiiiiiiiii…

Ich bin jetzt regelrecht nassgeblasen. Egal an was für einer Krankheit die großäugige Elefantendamme in den letzten zwei Jahren litt – ich werde sie jetzt definitiv haben – und meine Takkohose auch.
Ich habe weiterhin das Abendessen mit meiner Bekannten im Sinn und meine Laune wird sich durch nichts und niemanden negativ beeinflussen lassen. OH NEIN!
Ich nehme den Rest der Fahrt meine Schutzschildzeitung nicht mehr runter, obwohl der Artikel fünf Zentimeter vor meinen Guckantennen regelrecht wegschwimmt.
Im Hauptbahnhof wälze ich mich zwischen dem Pulk von Reisenden und den Spalier stehenden „Oma und Opa vom Zug Abholern“ durch und betrete endlich mein Büro.
Jetzt einen schönen Tee.
Am besten einen Grippetee. Sozusagen als Präventionsmaßnahme. Mein Gesicht ist wieder trocken. Hier und da spannt es gefühlsmäßig noch ein bisschen.
Der alte Kaffeekocher aus den frühen Sechzigern nimmt seine Arbeit auf.

Brotzel, britzel, brodel, model, broppel, sprutz und spritz…

Lustig agile Wasserblasen zeigen an, dass das Wasser seine Siedetemperatur erreicht hat und ich gieße die brodelnde Masse über den Teebeutel in meiner Tasse. Schnell verfärbt sich das Wasser von den Blättern südchinesischer Teeplantagen. Und wenn jetzt nicht der Beutel reißen würde – ich hätte sogar die Chance auf echten Teegenuss.
Das Teebeutelleck wird größer und größer. Der Beutelinhalt löst sich in der Tasse auf, wie ein Pferdefladen im Sommerregen.
Nicht aufregen, Eli, strömt es giftig durch meine Gedankenwelt.

ICH BIN RUHIG! ICH BLEIBE RUHIG!

Der aufgebrochene Teebeutel füllt meine Tasse.
2 Minuten später blicke ich auf Sumpgebiet.

Nach Begutachtung meiner Jeans versuche ich notdürftig, den abgesprengten Hosenknopf wieder anzubringen. Nur noch zwei Minuten bis zu einer wichtigen Sitzung.
Ich muss pünktlich sein wie die Braunschweiger Atomuhr.
Der blöde Nietenblechknopf hält nicht. Jedenfalls nicht durch bloßes Andrücken. Ich schlupfe aus der Hose, lege die Jeans auf den Bürotisch und hämmere mit dem Bürotacker auf dem Niet herum. Der ganze Knopf krümmt sich unter den Schlägen des schweren Bürotackers

Der Nietbolzen in der Mitte wirkt sehr malträtiert von den Schlägen 
mit dem Tacker. Der ganze Knopp ist schon krumm gebogen.
Wenn jetzt jemand den Raum betritt, komme ich in akute Erklärungsnot. Warum schlage ich - nur in Unterhosen, schwarzen Strümpfen und einem weißen Hemd gekleidet - auf meiner Jeanshose mit einem Tacker herum? 
Das Telefon klingelt. Es ist mein Büronachbar der mich kurz unterrichtet, dass das Aufsichtsamt beim Pförtner steht und meine Abteilung auf den Kopf stellen will. In windes eile ziehe ich mich wieder an und reiße den Teepott vom Tisch.
Ich bin schnell. Zu schnell. So schnell, dass ich mir die vulkanheiße Chinabrühe über die linke Hand schütte.
Jetzt ist Polen offen.
Ich fluche laut die dampfende rote Hand an. Einzelne Tropfen laufen bis zu den Enden meiner gekochten Fingerkuppen und klatschen zu Boden. Nur noch eine Minute bis zur Sitzung und drei Minuten bis Hobby-Inspektor Clouseau vom Aufsichtsamt aufschlägt.

Jetzt bin ich kurz vorm Durchdrehen.

Wieder klingelt das blöde Telefon. Ich nehme ab und die rote Hand dampft am grauen Telefonhörer wie ein Tanzflächenvernebler vor sich hin.
Zwei Meldungen vernehme ich aus dem Munde meiner Sekretärin, bevor ich resigniert auflege.
Die wichtige Sitzung ist verlegt. Nächster Termin unbekannt. Inspektor Clouseau vom Aufsichtsamt ist auch wieder weg. Er beguckt sich erst andere Abteilungen.
Ich registriere die Worte. Ich wünschte, es ist Feierabend und ich sitze im ICE nach Hamburg. Ich wünschte, ich sitze bereits beim Chinesen und das Einzige was dampft, ist eine scharfe Wan Tan Suppe.
Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Zu lang, für eine Kurzgeschichte...