Eine Zahnfee dreht auf


Es ist achtzehn Uhr und der Drei Vier meldet ein Problem. Mit Drei Vier meine ich nicht etwa das Beiboot vom Zollschiff Möve Null Eins. Nein, nein. Es ist mein Zahn, der seit Jahrzehnten eher unauffällig die übriggebliebene Drecksarbeit der Backenzähne Drei Sieben und Drei Sechs erledigt. Seit Jahren schieben sie die Arbeit unauffällig auf den kleinen Wurzelzwerg ab. 
Aber nun scheint erst einmal Schluss damit zu sein. Der, der in seiner goldenen Jugend selbst die hartnäckigsten Kronkorken von unzähligen Bierflaschen runterreißen konnte, meldet sich eindrucksvoll und schmerzhaft zu Wort. Mitten aus seiner lebensfeindlichen und dunklen Welt aus Essensresten, Verdauungssäften, geifernden Spuckedrüsen und schädlichen Kariessäuren.

Es ist Freitag. Natürlich! Was auch sonst?! Zähne melden immer freitags dem Benutzer ihre Probleme. Niemals montags. Immer nur freitags oder zum langen Osterwochenende auch schon mal samstags. Meistens beinhaltet diese Meldung den Text „Achtung – fremde Wurzelkanal Eindringlinge“. Oder ein Problem mit der Statik, wenn plötzlich ganze Artefakte wie von einer gesprengten Pyramide an einer Zahnkante herunter brechen.
   
Ich reiße die Erste Hilfe Schublade auf der Suche nach Erlösung aus dem Schrank und schaue nach brauchbaren Schmerztabletten. Zäpfchen gegen Erbrechen, Salbe gegen Mückenstiche, Prinzessin Lillifee Heftpflaster, aber keine Medizin, mit der sich mein Zahn wenigstens für das Wochenende ins Koma befördern ließe.
Ich schmeiße ein paar Milliliter hochprozentiges Klosterfrau Melissengeist auf den tobenden Rebell, bis sich kleine Hautfetzen von den inneren Wangen und vom Zahnfleisch lösen. 
Nun tut mir die gesamte Gusche weh. Die ganze scheiß Fressleiste brennt wie eine Raketenabschussbasis in Französisch Guayana. 
Aber der Zahn selbst ist jetzt ruhig. Etwas zu ruhig für meine Begriffe. Vielleicht habe ich ihn sogar getötet. 

***

Nu ist es schon Dienstag und ich bin auf dem Weg zu meinem Zahnarzt. Oder genauer gesagt, zu der Gemeinschaftspraxis, in der er praktiziert. Ich kenne ihn seit Jahren und nenne ihn Doktor Wurst. Doktor Wurst hat Finger in der Größe deutscher Grillbratwürste. Nur ein einzelner Finger seiner Hand füllt meinen Mundraum bereits zur Gänze aus. Bei zweien wird es kritisch und meine Mundwinkel fangen an, einzureißen. Dieses kann bei einem größeren Einsatz zum Problem werden, wenn sich zu seinen Fingern noch ein Bohrer und der röchelnde Spuckesauger der Zahnarzthelferin gesellt.

Aber Doktor Wurst hat heute Urlaub und mein Melissengeistzahn wird bereits von seiner jungen Vertretung erwartet. Eine frisch studierte Zahnrestaurateurin die erst halb so alt erscheint wie der schmerzende Drei Vierer. 

Die von mir naturgetreu nachgestellte Szene 
zeigt die Zahnärztin mit ihrem Ruffel- und Rumpelbohrer.
Den kennen alle...

Um sich herum versammeln sich ihre drei Assistentinnen. Wie Tick Trick und Track formieren sie sich staunend am Kraterrand meines geöffneten Mundraumes.
Nach einer kurzen Untersuchung der gesamten Speisen-Verarbeitungsanlage geht es denn auch schon los. 
Frau Doktor Zahnfee läst den großen Ruffel- und Rumpelbohrer klickend in die Antriebsturbine in ihrer Latexhand einrasten und ihn wie ein Motorrad beim Start einmal kurz aufbrüllen.

RRRRRRRRRiiiiiiiiiiiiäääääääääääärrrrrrrrrrrr

Ein geheimnisvolles Lächeln legt sich um die Lippen der Ärztin. Langsam führt der Weißkittel den Großkopfbohrer an den restlichen Zahnschmelz meines Drei Vierers heran und reißt meinen Kopf dabei in die gewünschte Richtung. Sogleich sammeln sich mehrere gefühlte Kubikmeter von ganzen Spuckeseen im hohlen Rachenraum, der das Geräusch des Bohrers nun wie ein Betonrohr verstärkt.

RRRRRRRRRRRRRRRiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiääääääääääääääääääiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii

Unbarmherzig fräßt sich der grobe Schnellläufer in den Drei Vierer. Einzelne Zahnfragmente schießen aus meiner Mundhöhle heraus und werden von meinen angstgeweiteten Pupillen bei ihrem Weiterflug verfolgt.

„Wenn es irgendwann weh tut, dann bin ich schon sehr weit am Nervenkanal dran. Dann gebe ich ihnen eine Spritze. Sagen sie mir bitte Bescheid, wenn es schmerzt! Ich werde aber versuchen, so wenig tief wie nötig zu bohren“

Mein Mund ist voll. Wie um alles in der Welt soll ich mich artikulieren, wenn es schmerzt? Der Spuckesauger saugt und bläst. Er saugt und bläst und saugt und bläst. Er saugt mir den Mundraum trocken wie ein Schlammsauger für Koiteiche. Gleichzeitig bläst er mir den Eins Sechser kalt, bis er schmerzt. Ich weiß nicht warum er gleichzeitig bläst, aber er tut es.

„Ouuuuoooohhhhh, Ouuuuoooohhhhh“, quellt mein Schmerzschrei undeutlich zwischen den aufgerissenen Kiefern hervor.
„Ouuuuoooohhhhhoooouuuuoooohhhhh!!!“

„Das kann ja noch gar nicht weh tun! Lassen sie uns ruhig noch ein bisschen weiterbohren. Dann haben sie es auch bald geschafft.“, höre ich die Stimme der Ärztin wie hinter einem nebligen Schleier aus Filterwatte.

Auch Tick, Trick und Track haben sich nun in Ekstase gearbeitet. Sie halten mir mit 4 Händen den zitternden Kopf in Position wie in einem Schraubstock. Gleichzeitig drehen sie den Spuckesauger in solch eine Position, sodass er mir direkt mit eiseskalter Luft in ein offenes Kariesloch meines Eins Sechser bläst.

„Ouuuuoooohhhhhooo! Ouuuuuuuuuuoooohhhhhooooooooo!!!“

Ich kriege Panik! Wild ziehen sich die Schmerzen nun durch mein gesamtes Beißgelände. Fast alle 28 Zähne scheinen nun gegen ihren Träger protestieren zu wollen. Nur mein Drei Vierer nicht. Der hat genug zu tun in seinem Kampf gegen den Großkopfbohrer, welcher sich immer weiter wie eine Bergwerksbahn in sein innerstes hineinfräst. Jetzt dreht die Zahnfee erst richtig auf.

RRRRRRRRRRRRRRRiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiääääääääääääääääääiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii
„Ouuuuoooohhhhhoooouuuuoooohhhhh!“
RRRRRRRRRRRRRRRiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiääääääääääääääääääiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii
„Ouuoooouuuuuoooohhhhhoooouuuuoooohhhhhoooooooooo!!!“

Wieder höre ich die Stimme der Ärztin.
„Das kann doch nun nicht sooo schlimm sein. Wir sind auch gleich fertig.“

Warum versteht mich hier eigentlich niemand, geht es mir zäh wie kaltes Labskaus durch den Kopf? Ohne auf mein unentwegtes Hilfegegluckse zu hören, setzt die Zahnfee ihren Kampf gegen den Kariesfraß fort und eine ganze Gischtwolke aus einem Gemisch von Zahnteilen und Bohrerkühlwasser spritzt aus meinem Mund wie aus einem isländischer Geysir.
Ein Tränenschleier zieht sich über meine Pupillen. Vielleicht entsteht er auch von der hochschießenden Gischt aus dem innersten meines Rachens. Ich weiß es nicht!
Plötzlich Stille. Der Bohrer schweigt und auch der verdammte Spuckesauger verendet wie ein toter Salamander unter meinem Gaumen.

„Na? War doch gar nicht so schlimm! Oder?“

Ich vernehme die Worte der Zahnfee, aber verstehe sie nicht.
Tief atme ich durch und spüre mein nass geschwitztes T-Shirt unangenehm auf meiner Brust kleben. 
„Hero Distrikt“ steht in tiefblauen Buchstaben auf dem schwarzen Baumwollstoff. 
Na toll! Besonders heldenhaft war diese Vorstellung ja nicht.

Der immer noch lächelnde Weißkittel füllt mein übriggebliebenes Zahngerüst des Drei Vierers mit einer breiigen Masse, welche mit Hilfe von UV Strahlen in wenigen Sekunden stahlbetonartig verhärtet. 
Damit wurde das Innere meines kleinen Wurzelzwergs wie ein Super Gau im Atomkraftwerk für immer hermetisch geschlossen. 
Und ich hoffe, meine Angst vor Zahnärzten damit auch! Jedenfalls erzähl ich der Ärztin heute nicht mehr vom Loch im Eins Sechser. 
Ich kann gerne warten, bis Doktor Wurst wieder aus seinem Urlaub kommt. 

Ich fummele beim Abschied mit der rechten Hand über meine rechte Jackentasche, und fühle die Konturen. 
Meine Finger zeichnen die Kurven des verdeckten Inhaltes lasziv nach, wie beim knisternden Vorspiel an einer sich dahin räkelnden schönen Frau. 
SIE wird mir und meinem Eins Sechser in den nächsten Tagen die nötige Kraft und Sicherheit geben, bis Dr. Wurst wieder praktiziert. 
Da bin ich mir sicher!
SIE – meine fast noch volle Flasche Klosterfrau Melissengeist.
GANZ sicher!!!...