Der Todessprung

Nu ist es wieder so weit. Die alljährliche, von vielen Männern geliebte und derer Frauen gefürchtete Grünkohlwanderung steht vor der Tür. Vierzig Kollegen, Freunde und Bekannte haben sich angemeldet, um die Karawane der Torkelgänger 2011 zu begleiten.

Jedes Jahr im Februar dasselbe Schauspiel. Eine überaus durstige Gruppe von Menschen reist aus allen Himmelsrichtungen wie Lenkraketen auf den Bahnhof Bückeburg zu. Von dort aus geht es mit einem mit Spirituosen gefüllten Bollerwagen zehn Kilometer über die Tundra der Schaumburger Grafschaft. Am Ende wartet auf denjenigen, der bis jetzt seinen „pro Kopf Verbrauch“ einigermaßen kontrollieren konnte, das krönende Grünkohlessen mit anschließender Preisverleihung des sabbernden Schweineordens für die hungrigsten Esser.

In der S-Bahn Richtung Minden treffe ich bereits den harten Kern der Spirituosen-Lemminge. Mit dem Pflichtbewusstsein hoher Verantwortung im Nacken, sind sie bereits dabei, die unbekannten Getränke zu testen und zu bewerten. Dieses erfolgt in stetem Wechsel mit der Zunahme der bereits bekannten und zugelassenen Flussmittel des letzten Jahres.
Nach dreißig Minuten Zugfahrt verlässt die Truppe Ost die rote S1 und trifft sich mit den restlichen Lemmingen und Qualitätsprüfern aus dem Westen der Republik.

Nun stehe ich hier im schönen Bückeburg und versuche zumindest noch zu Beginn des Events, die wandernden Mitesser sicher zu disponieren.
Aufgabe eins: Aufstellung zum Gruppenfoto vor dem Bahnhof Bückeburg.
Was am Anfang noch einfach erscheint erweist sich nach einigen Versuchen als schier aussichtsloses Unterfangen. Es ist leichter einen brennenden Ameisenhaufen in Reih und Glied antreten zu lassen. Trotzdem schreite ich durch die mit Schnapshumpen Behangenden und weise jedem einen festen Standplatz zu. Auch mein Humpen wankelt fröhlich an einem Halsband gehalten vor meiner Brust hin und her.
Nun schnell das Haupthaar in Position gebracht und ein, zwei Fotos aus der Hüfte geschossen. 
Klick, Klick, geschafft!

Die Jagd nach dem Schweineorden mit Urkunde beginnt...

Ein Blick in den Bollerwagen sagt mir, dass die Verpflegung für gut drei Stunden ausreicht, ehe es in der Folge zu Ausschreitungen und Rebellionen kommt. Nach den ersten zweihundert Metern erreichen wir bei Minusgraden und Windstärke 6 offenes Gelände. 

Der kalte Wind macht uns schwer zu schaffen. Er bläst ins Gesicht. Er bläst in die Jacke und er bläst in die Hose. Ich habe mich nach langer Vorplanung für eine lange Unterhose mit Seiteneingriff im modischen blassblau entschieden. Damit steht man(n) immer auf der sicheren Seite. 

Modisch auf der Höhe und auf alle Vorkommnisse vorbereitet:
Langbeinige Unterbuchse in blassblau mit Notfall-Seiteneingriff

Nach vierhundert Metern sieht man die ersten Grünkohl-Lemminge, wie sie auf dem Feld hektisch einen Puscher-Busch als Blickschutz suchen. Vergebens! Der Wind bläst die Büsche bis auf Kniehöhe herunter und das Gelächter der Damen weht weit über das sonst blankgefegte Feld. Und mir wird bewusst: Das Lied „20 Zentimeter“ ist auf Lügen aufgebaut. Ich bin erschüttert!

2ter Streckenhalt. Im Bild die mittlere Truppe der Bollerwagenziehbevollmächtigten

Hop hop hopp, det jute inne Kopp

Die Karawane zieht sich nun wie eine Perlenkette über die Weite des Landes. Vorne weg die Jugend, dann die starken Bollerwagenziehbevollmächtigten und zum Schluss die Gruppe der Filzhut-Träger. 
Die Flaschen im Karren erzeugen bei jeder Bodenerhebung und Senke einen klirrenden Protest. 

Klünkel schünkel. Klünkel schünkel. Scheppel. Pinkel Pankel. Prünkel Püng.

Mit dabei ist der Mischlingshund Ludwig. Wir sind uns sicher, Ludwig ist aus einer nächtlichen Liaison von Snoopy und dem Dackel von Hausmeister Krause entstanden. Ludwig apportiert den ganzen Tag. Ohne jegliche Apportierschutzpause. Hat man ein Stöckchen in der Hand, baut sich Ludwig bereits erwartungsvoll mit durchstartenden Beinturbinen vor einem auf. 

Raketenhund Ludwig. Noch sieht er gut aus...

Mein Kumpel Jörg will auch das Stöckchen werfen. Lange visiert er das weite Feld an. Er zielt, spannt die Muskelgruppen an, zielt nochmals ganz genau. 
Und zielt nochmal.
Und zielt nochmal.
Vor ihm tun sich nicht besonders viele Wurfziele auf. Zwanzig Hektar Acker und ein kleiner Bach (den er aus seiner Position nicht sehen kann). 
Und schon kommt der Wurf... (Ludwig und ich haben schon nicht mehr daran geglaubt).

Sssst, sssst, sssst, sssst, ssssst...

Sirrend schießt der Stock nah an unseren Köpfen vorbei. 

Sssst, ssst, ssst, ssst, sst, sst, st, st, st, s, s, s... 

Wie soll es anders sein… Mein Kumpel trifft das Gewässer. War doch auch irgendwie klar, denke ich träge wie eine Raupe im Verpuppungsstadium.
Nur Ludwig denkt gar nicht. Ludwig startet durch. Nichts kann und wird ihn jetzt noch aufhalten. Wie Batman schießt er über den gefrorenen Lehmboden und verschwindet kurz darauf vom Horizont. Und allen ist uns klar: Ludwig hat den Todessprung mit 3facher Strudelrolle gewagt. 
Die halbe Karawane findet sich am natürlichen Beckenrand ein und schaut Ludwig dabei zu, wie er im Eiswasser mit seinem Stöckchen herumrudert. Die Menge ist sich schnell einig. Diese Leistung reicht wenigstens für das Seepferdchen-Abzeichen. Ich nehme mir ein Herz und rette zuerst den Hund und dann sein Wurfholz. 

Nach dem kleinen Zwischenspiel ziehen wir endlich weiter. Nach und nach leert sich der Bollerwagen und wir erreichen nach zwei Stunden die anvisierte Gastwirtschaft in Meinsen. Wer jetzt noch der Sprache halbwegs mächtig ist, will unter allen Umständen den Schweinorden gewinnen.
Der Wirt und der im Unterbodenbereich hartgefrorene Ludwig sind jetzt die Einzigen, die bei klarem Bewusstsein sind. Auch ich sehe meine Umwelt wie durch ein auslaufendes Aquarium.
Ich stelle fest, dass das Einzige, was sich an einer Grünkohlwanderung wirklich störend auswirkt, das Grünkohlessen selbst ist. Die restlichen Teilnehmer sehen dieses nicht so. Sie stürzen sich auf die dampfenden Schüsseln mit Bregenwürsten, Kassler Braten und Kartoffeln wie afrikanische Heuschrecken auf das letzte Grün der Savanne. 
In den folgenden Minuten ist der Raum einzig erfüllt von Essgeräuschen, die wild in meinem Kopf herumwabern.

Schlüüürf, schlabber schlabber, klimper klump, snüp und schmatz.

Nach einer Dreiviertelstunde ist der Spuk vorbei. Die Wettkampfjury hat die beiden besten Wiederkäuer ermittelt. Bewertet wird Essverhalten, Ess-Stil, Essgeschwindigkeit und Menge.
Ich, mein Kollege Andi und die 7jährige Kathi haben die ehrenvolle Aufgabe, die diesjährige Grünkohlkönigin und den Grünkohlkönig zu ehren. 
Beide gewinnen mit einer Vertilgungsleistung von 4,5 Portionen in 36 Minuten den beliebten Schweineorden nebst Urkunde. 

Die kleine Kathi hat die großen Männer voll im Griff.
König Thomas bekommt den sabbernden Schweineorden
Die Königin hängt derweil schon wieder an ihrem Teller fest.

Ich, König Thomas, Andi und Kathi. 
Der König lässt sich nicht lumpen und spendiert auf den Gewinn ein Lokalrunde